spainitalyenglishgermanyfrance

Mit spitzer Feder

Kalligraphie in Basel

Nostalgie und die Utensilien alter Handwerkskunst im Scriptorium von Meister Schenk

Basel rühmt sich, neben einer schönen Altstadt, eines milden Klimas und des zweithöchsten Pro-Kopf-Einkommens der Schweiz, auch einer Reihe von Absonderlichkeiten: Die Anatomische Sammlung bewahrt das älteste Präparat eines Menschenskeletts, der zoologische Garten ist durch seine Zuchterfolge mit Panzernashörnern weit über die Grenzen bekannt, und in einem “Scriptorium” am Rheinsprung arbeitet Europas einziger Schönschreiber, der sein Handwerk noch öffentlich und hauptberuflich ausübt.

Während sich andernorts die Kalligraphen in verstaubten Archiven oder Bibliotheken vergraben und dort hauptsächlich alte Schriften restaurieren kann es sich Andreas Schenk erlauben, seiner Arbeit im Erdgeschoss eines stilvoll restaurierten Fachwerkbaus von 1437 nachzugehen. Ein Schild weist den kleinen Eckladen inmitten der Altstadt als Schreibstube aus – zwischen Tintenfläschchen und Papieren, Pergamenten, Federkielen und Schreibfedern sitzt der 40jährige Kalligraph am Pult und nimmt Aufträge von Passanten, Museumskuratoren und Schriftliebhabern jeder Art an.
Seine Arbeit besteht darin, Heiratsanzeigen, Einladungen und Speisekarten, Weinetiketten, Stadtchroniken und Zunftbücher zu fertigen, alles also, was schön und von Hand geschrieben sein soll. Weil der ehemalige Bauzeichner sein rares Können nicht für sich behalten mag, bildet er nicht nur Profis wie Graphiker und Lehrer aus, er gibt auch Kurse, in der er Laien beizubringen versucht, was sie in der Schule nie richtig gelernt haben.

“Kalligraphie ist wie das Essen mit Stäbchen”, erklärt der Meister zur Begrüssung seiner Schüler, “also nicht im Vorübergehen zu erlernen.”
Trotzdem haben sich fünf Frauen und ein Mann aus der Schweiz und Deutschland am Freitagabend in seinem Atelier zusammengefunden, um den Grundlagen der Schönschrift ein intensives Wochenende zu widmen. Wer kommt im Zeitalter des Telephons und Bildschirmtexte, des Kugelschreibers und des schnellen Gekritzels auf die Idee, seine Handschrift zu üben? Offenbar recht viele Leute, denn Schenks Kurse erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. In den USA ist die Kalligraphie sogar zu einer Art Volkssport geworden, Ausstellungen zum Thema verursachen Warteschlangen vor den dortigen Museen, und auch in Europa boomt die Zahl der Freizeitschreiber. Das Interesse an Handschriften stieg parallel zum Aufkommen der Computer und Laserkopierer: Offenbar hat die zunehmende Uniformität aller Schriftdokumente den Wunsch nach einer schönen Handschrift geweckt, die als ein Ausdruck von Persönlichkeit, mitunter auch von Kultur gilt.
Die Teilnehmer des “Einführungs-Wochenendes”, das der Enge wegen nicht im Scriptorium, sondern im geräumigen Atelier im vornehmen Stadtteil Neubad stattfindet, kommen aus unterschiedlichen Motiven. Einige von ihnen – die Heilpädagogin, die Seidenmalerin und die Papierhändlerin – widmen sich der Kalligraphie aus beruflichen Gründen; andere kommen aus Freude an “alten Schriften”, wie eine Schweizer Bahnangestellte erklärt, und für den Zürcher soll die Kalligraphie eine “Entschädigung” für seinen computerisierten Arbeitsplatz bei einer Krankenkasse sein. In einem sind sich alle einig: Sie wollen ihre Handschrift für mehr als nur Einkaufslisten, Unterschriften oder Grusskarten zu Ostern benutzen. Nach einer geschichtlichen Darstellung der Schrift und ihrer Werkzeuge, einem Training in korrekter Federführung und zweckmässiger Körperhaltung wird sofort geübt: mit spitzer Stahlfeder und Tintenfass. Dass die Hektik der Begrüssungsminuten sehr schnell einer wohltuenden Ruhe weicht, in der nur das Kratzen der Federn zu hören ist, schreibt der Kursleiter dem meditativen Charakter der Schreibkunst zu: Sie gehe über den rein sprachlichen lnformationszweck hinaus, erklärt er, und kann ein Ausgleich zur hektischen Arbeit sein, eine ruhige Beschäftigung, bei der man sich sammelt.

“Erst wenn dein Wesen zwischen Federspitze und Papier sitzt, kannst du schreiben”, zitiert Andreas Schenk eine Kalligraphen-Weisheit. “Schriftgefühl verlangt Selbstbeherrschung, Präzision, das Gefühl für den Raum, der zwischen den Buchstaben liegt – und Musikalität. Wie ein Geiger oder Tänzer braucht auch der Schriftkünstler vor allem eines: das Gefühl für Rhythmus. Jede Schrift hat ihren Takt, der durch Druck oder Flug der Feder zum Ausdruck gebracht wird, mal beschwingt, mal eher streng.” Zur Unterstreichung dieser These hält er seine Schüler an, zur Musik zu schreiben, zu malen, Schrift also zu komponieren. Dies geschieht nicht nur mit der Feder, sondern auch mit Bambus, Pinseln und den verschiedensten Tinten und farbigen Temperas – ganz im Sinne der Kursbeschreibung, die unter anderem auch Einblicke in die “experimentelle Kalligraphie” verheisst.
Jede Schrift, erklärt der Kursleiter, verursache den ihr eigenen psychologischen Widerhall: Die Unziale wirke sakral, die Fraktur offiziell, diszipliniert und die englische Schreibschrift lieblich, körpernah und freundlich. Sie sei mit einem Violinsolo vergleichbar, mit Johann Strauss, mit dem Walzer. Zwar lässt die Anglaise jedes Zögern, jeden Fehler sofort sichtbar werden, doch keine eigne sich für den Anfänger so wie sie, ein Bewusstsein für Fläche, ein Gefühl für Tinte und Feder zu erlangen. Den Beweis dafür liefert eine Kiste voller Briefe seiner ehemaligen Schüler, die dem Meister ihr Können und ihre Fortschritte mit kunstvoll kalligraphierten Briefen aus ganz Europa zeigen.
Auch am Ende dieses Kurses sind alle Teilnehmer hoch zufrieden: Neben einer Vielzahl an Schreibtechniken, den Gesetzen des Goldenen Schnitts und den zu vermeidenden Grenzen zum Kitsch haben wir die Herstellung der alten Gallapfeltinte erlernt, die risikoreiche Fleckentfernung mittels einer Rasierklinge und nicht zuletzt das Gefühl dafür, dass Geschriebenes mehr ist als nur Lesbares.
Sogar über die unabwägbaren Risiken im Leben eines Kalligraphen wissen wir nun Bescheid. Nachdem Andreas Schenk beauftragt wurde, das offizielle “Gästebuch der Stadt Basel” zu restaurieren, entdeckte er auf der Seite des französischen Staatspräsidenten François Mitterrand einen hässlichen Schweissfleck und entfernte ihn sorgfältig. Seine Auftraggeber waren wider Erwarten bestürzt, der Fleck war prominenten Ursprungs: Franz Josef Strauss hatte ihn an einem heissen Basler Sommertag beim Durchblättern des Buches fallen lassen.

brigitte_artikel_kalligraphie_kalligrafie
Brigitte, 12/1995, S. 183
brigitte_artikel_kalligraphie_kalligrafie
Brigitte 12/1995, S. 184
brigitte_artikel_kalligraphie_kalligrafie
Brigitte 12/1995, S. 185
  
zum nächsten Artikel >
< zum vorhergehenden Artikel