Die Anglaise,
die englische Schreibschrift, ist für den Kalligraphen sicher
nicht die leichteste unter den Schriften der westlichen Hemisphäre.
Durch ihre leichte, schwungvolle Form täuscht sie oft darüber
hinweg, dass sie fast nur von Kupferstecher in der bestechenden
Präzision ihrer Schwünge geschaffen werden konnte.
Dank der Erfindung von hochelastischen Stahlfedern fand sie auch
Einlass in die Schreibstuben und -schulen.
In der Folge entwickelte sich die Anglaise, bei der jeder Formfehler
sofort sichtbar wird, Ende des 19. Jahrhunderts zur überladenen
Schnörkelschrift, die jeglichen Dilettantismus mit Schnörkeln
und allerlei Zierwerk zu verdecken suchte. Um dem allmählichen
Zerfall der abendländischen Schreibkunst entgegenzuwirken,
versuchte man den damaligen Zöglingen eine artige Kanzleischrift
mit dem Rohrstock beizubringen.
Die Anglaise lebt von immer
in ovaler Form gehaltenen Buchstaben mit dünnen Aufstrichen
und dicken, betonten Abstrichen'. Sie verlangt beim Schreiben
die richtige Federhaltung, die es ermöglicht, dass beim
Aufstrich die Feder nicht im Papier hängen bleibt und beim
betonten Abstrich nicht einer der sich spreizenden Füsse
hüpft und der andere durch zu starke Belastung abbricht.
Die Auf- und Abstriche müssen langsam gezogen bzw. gestossen
werden; dabei ist darauf zu achten, dass der angewinkelte kleine
und der Ringfinger als Verbindung zum Papier die Auflagestärke
der Feder feinstmöglich regulieren. Die Feder selbst sollte
zwischen Daumen und Mittelfinger geklemmt und durch den etwas
zurückversetzt anfliegenden Zeigefinger stabilisiert werden.
Der Zeigefinger dient auch dazu, bei dem betonten Abstrich genügend
Druck auszuüben, wobei die ganze Feder über die Senke
zwischen Daumen und Zeigefinger zurückgestossen wird, ohne
die Parallele zum schreibenden Arm zu verlieren.
Es ist ratsam, anfänglich die Schreibübungen ohne
alIzuhohen Anspruch an Briefen, Tischkärtchen und sonstigen
Gebrauchsformen auszuführen. Es braucht zahlreiche Versuche,
bis der Schwung eines A sich so eingeprägt und rundgeschliffen
hat, dass er annähernd an einen sauber gestochenen Versal
A der Kupferstecher herankommt. Ein A in all seinen Variationen,
mit grossem oder kleinem Vorschwung, mit mehr oder weniger Neigung
lässt uns langsam das Auge schulen für eine ideale
Form.
|
Abb.13
(oder kleines Bild anklicken)
Anleitung zur idealen Federhaltung. Die Feder wird zwischen
Daumen I und Mittelfinger III geklemmt und mit dem Zeigefinger
II je nach Bedarf bewegt.
[Workshops
/ Kurse] |
Im Gegensatz zu allen anderen
Schriften, die in der Regel mit der Bandzugfeder geschrieben
werden, benützt man für die Anglaise die Spitzfeder,
was kein leichtes Unterfangen ist. Obwohl diese Schrift sehr
reizvoll ist in ihrer anmutigen Art, lässt sie doch jedes
Zögern und jeden Fehler unmittelbar sichtbar werden, so
dass wir dazu gezwungen sind, diese Technik einem leichten Violinsolo
gleich langsam und mit Bedacht auszuführen.
|
Abb.14
(oder kleines Bild anklicken)
Das Alphabet der englischen Schreibschrift (Cooperplate).
Der jeweilige Beginn des Buchstabens ist mit I, weitere
Schwünge mit II und III gekennzeichnet.
[Workshops
/ Kurse] |
A
Einem Schneckenhaus gleich wird das A (siehe
Abb.14) von der oberen Begrenzungslinie der Kleinbuchstaben
unbetont zurückgezogen und mit anfänglicher Betonung
in einer feinen S-Kurve zur Oberkante der Grossbuchstaben gestossen,
wo nach kurzem Halt der Abstrich zunächst parallel zum
Aufstrich, dann in einem Winkel von ca. 70° in gleichmässiger
Betonung bis zur Unterlinie gezogen wird. Durch Hochstossen
der Feder in dem noch nassen Abstrich bis zur Hälfte der
Buchstabenhöhe und anschliessendem Hochbiegen mit gestossener
Feder auf die volle Höhe und Herunterziehen auf die Hälfte
der Kleinbuchstabenhöhe kann der Anschluss an den nächstfolgenden
Kleinbuchstaben hergestellt werden.
B Beim B ist darauf zu achten, dass der Abstrich in einer leichten
S-Kurve mit vorzeitigem Nachlassen des Druckes zu erfolgen hat.
Beim anschliessenden Aufstrich ist in gleicher Weise zu verfahren,
wobei frühzeitig in ein schräg liegendes Oval überzugehen
ist, auf das ein zweites folgt.
C
Der obere unbetonte Anfangsschwung kann ausgelassen und durch
eine kurze Betonung ersetzt werden (siehe punktierte Linie).
D Der hintere Bogen hat schwungvoll eine ansehnliche Grösse
zu erreichen, die sich in eine Schneckenform verjüngt.
E
Wie bei C
F Schwung l und lI wie beim B, jedoch nicht zusammenhängend.
III unter die Grundlinie der Kleinbuchstaben zurückfahren,
zuerst parallel mit I, dann I und II kreuzend den Abstrich waagrecht
durchfahren und kurz nach einem kleinen unbetonten Salto mit
kurzem Druck parallel zum Abstrich I einen nahen Abstrich antönen.
G, H
wie C und B
J Zuerst den oberen waagrechten Strich, dann leicht geschwungen
den in einer Schnecke endenden Abstrich ausführen und anschliessend
den Zipfel mit einem kurzen Abstrich betonen.
Die folgenden
Buchstaben, bei denen sich die oben detailliert beschriebenen
Formen wiederholen, werden gemäss Vorlage ausgeführt.
Es ist jedoch darauf zu achten, dass der Druck beim Abstrich
frühzeitig nachgelassen wird, da sonst die Buchstaben allzuleicht
plump aussehen.
Zwei nebeneinanderliegende Kleinbuchstaben mit Unterlängen,
können leicht zu Verwirrungen führen. Es ist deshalb
ratsam, die erste hochzuschwingen und die zweite nach hinten
durchgezogen unter dem zweiten Schwung zu beenden.
Im fortlaufenden Text empfiehlt es sich, alle Schwünge
so wenig wie möglich zu betonen, da sie vom eigentlichen
Text wegführen und das Zierwerk zu sehr hervorheben.
|
Abb.16
(oder kleines Bild anklicken)
Übungsbeispiele in Anglaise und unten Schriftmuster
eines eingemitteten Aphorismus.
[Workshops
/ Kurse] |
Ein eingemitteter
Text muss, sofern man ihn nach Augenmass nicht ganz beherrscht,
mit dem Bleistift vorgeschrieben werden. Beim Vorschreiben ist
darauf zu achten, dass die Abstände bei der Bleistiftschrift
oft nicht die gleichen sind, wie sie bei einer Tintenschrift entstehen.
Eine zusätzliche Hilfe kann uns eine mit Schreibmaschine
geschriebene Vorlage bieten: Nachdem die erste Zeile von Hand
vorgeschrieben wurde, lassen sich aufgrund des Längenverhältnisses
zwischen dem handschriftlichen und dem maschinenschriftlichen
Text alle weiteren Zeilen gut abschätzen.
Abb. oben:
Bewegungsablauf der Feder. Durch Druck auf die Feder spreizen
sich die zwei Federfüsse, wodurch der feine Grundstrich
verdickt wird. Es ist darauf zu achten, dass beide Federfüsse
mit gleichmässigem Druck belastet werden, da sonst der
unbelastete Strichrand ausfranst.
Diese Übungen (siehe Abb.18) dienen in erster Linie zum Erlangen einer geübten Fingerfertigkeit
und sind in Schriftstücken äusserst zurückhaltend
anzuwenden. Mit dem Bleistift bei längeren Telefonaten, mit
dem Kugelschreiber beim Warten auf den nächsten Zug lässt
sich anhand dieser Beispiele neben dem seriösen Üben
mit Tinte und Feder eine Fingerfertigkeit erreichen, die für
das Schreiben mit der Spitzfeder nur von Nutzen ist.
|
Abb.18
(oder kleines Bild anklicken)
Grundübungen zum Erlangen der Fingerfertigkeit mit
Tinte und Feder. Die dicken Striche werden hierbei immer
gezogen, die dünnen gestoßen, ohne im Papier
hängen zu bleiben.
[Workshops
/ Kurse] |
|
Abb.20.1
(oder kleines Bild anklicken)
Beispiel einer Adressbeschriftung. |
Zwar ist
es nach dem Erlernen der Anglaise nicht unbedingt leichter,
andere Schriften zu erlernen, doch lehrt sie uns ein Flächenbewusstsein,
ein Gefühl für Feder, Tinte und Papier und darüber
hinaus auch einen differenzierten Umgang mit jeder Schrift,
indem Schwungvolles nicht bloss durch einen äusseren als
vielmehr durch einen inneren Schwung und Disziplin zu erreichen
ist. Jeder Strich sitzt, wo er sitzen muss, und die Ruhe dieser
Arbeit erfüllt das ganze Wesen mit einer umfassenden Zufriedenheit,
wo Zeit und Raum, für kurze Zeit wie weggewischt, uns nicht
mehr kümmern noch belasten.
[Workshops
/ Kurse] |